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Stellen Sie sich vor, in Ihrem Wohnort verschwindet innerhalb von 6 Jahren die Hälfte der Einwohner. Die Hälfte der Häuser in Ihrer Straße sind verlassen. Die Jalousien dauerhaft heruntergelassen, die Briefkästen zunächst noch mit Werbung vollgestopft, die Gärten zunehmend von Unkraut überwuchert, der Bürgersteig und der Rinnstein nicht mehr sauber gehalten und im Winter nicht mehr vom Schnee geräumt. Nachts muss man mit Plünderern rechnen, die in den Nachbarhäusern einbrechen und verwertbares wie Metallrohre herausreißen wollen – und sich „versehentlich“ auch mal an einem noch bewohnten Haus vergreifen, wenn der Besitzer nur gerade verreist ist.

Geschäfte und Lokale geben nach und nach auf, weil sich der Betrieb für die verbleibenden Bewohner nicht mehr lohnt. Frostschäden und sonstige Schlaglöcher in Ihrer Straße werden nicht mehr repariert, kaputte Straßenlampen nicht mehr ersetzt. Briefkästen werden abmontiert oder ihre Leerung ausgedünnt. Auch manche Familie, die eigentlich an Haus und Heimat hängt, kapituliert dann vor der zunehmenden Verödung und lässt sich zum Verkauf bewegen.

So entwickelte sich die Situation immer in den Ortschaften, die für den fortschreitenden Braunkohletagebau abgerissen wurden: Immerath, Borschemich, Otzenrath, Holz, Pesch, Etzweiler, Manheim, Pier, um nur einige aus den letzten Jahren zu nennen. Und so hat es sich auch bereits in den 5 Dörfern rund um den Braunkohletagebau Garzweiler entwickelt, die ursprünglich abgerissen und umgesiedelt werden sollten und nun doch stehen bleiben werden.

Drei davon, Keyenberg, Kuckum und Berverath, wird es nun doppelt geben: als Alt- und Neu-Siedlung. Die beiden Nachbardörfer Ober- und Unterwestrich sind auf der neuen Siedlungsfläche nur noch als „Westrich“ zusammengefasst worden. Für das jetzt dem Abriss preisgegebene Lützerath war keine eigene Neuansiedlungsfläche ausgewiesen. Ein Neu-Lützerath wird es also nicht geben, dieser Ortsname wird von der Landkarte verschwinden. Nur in dem bis 2019 bereits umgesiedelten Immerath gibt es jetzt noch eine Lützerather Straße.

Wie soll es dort weitergehen? Von Februar an will sich die Stadt Erkelenz, auf deren Gebiet sich sowohl die alten wie die neuen Ortschaften befinden, in Planungsgruppen darüber Gedanken machen. Vieles ist noch unklar.

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Die gespaltenen Dörfer am Tagebau Garzweiler
Bildrechte RurKreisJuelich
Die gespaltenen Dörfer am Tagebau Garzweiler
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In dem Deal zwischen der NRW-Landesregierung und der RWE AG bekamen die Hausbesitzer aus den betroffenen Ortschaften, die bereits ans RWE verkauft hatten, ein Rückkaufsrecht eingeräumt. Aber wer will jetzt noch zurück ins alte Dorf, in dem  seit Jahren nichts mehr in die Infrastruktur investiert wurde? Und wer bleibt jetzt auch im alten Dorf, wenn er schon verkauft hat, der Umzug aber noch nicht vollzogen wurde, weil das neue Eigenheim sich gerade im Bau befindet?

Eine Anwohnerin in Alt-Berverath (72), die ich vor ihrem schmucken efeuberankten Haus frage, winkt ab: „Ich habe mich vor vier Jahren zum Verkauf drängen lassen, und jetzt bleibt es dabei. Ich will nur noch weg. Meine Freunde sind auch schon alle weg. Was soll ich dann noch hier?“

Und wie würden Rückkehrer von denen empfangen, die im alten Ort ausgeharrt hatten? Wie weit und wie lange würde die Dorfgemeinschaft belastet bleiben zwischen denen, die sich dem Verkauf an RWE widersetzt hatten, und den anderen, die sich mit dem Konzern eingelassen hatten?

Mitten hindurch zieht sich die Spaltung heute in Berverath, das erst in 8 Jahren für den Abriss vorgesehen war, die Umsiedlung sich aber schon mitten im Gange befand. Anfang 2022 wohnten noch 57 von ursprünglich 117 der Bewohner im alten Ort, 49 waren bereits in die Neuansiedlung gewechselt. In den letzten Monaten stieg die Einwohnerzahl im alten Dorf wieder – durch Einquartierung ukrainischer Kriegsflüchtlinge in einigen der verlassenen Häuser.

Am weitesten fortgeschritten ist die Umsiedlung in Keyenberg, das nach Lützerath als nächstes für den Abriss „fällig“ gewesen wäre. Von ursprünglich 840 Einwohnern leben derzeit 180 noch im alten Dorf, 446 in der neuen Siedlung. Der alte Ort wirkt heute weitgehend wie ein Geisterdorf. Die Metzgerei, die Kneipe und eine von zwei Bäckereien sind längst geschlossen. Auch der zweite Bäcker war schon auf dem Absprung, will jetzt aber doch „vorerst“ bleiben. Die Kirche ist ebenfalls bereits entweiht, der Verbleib des Inventars darin – darunter ein großer, historischer Altar – ist ungewiss: im neuen Gotteshaus ist dafür kein Platz – auch stilistisch würde das alte Stück in den monolithischen Neubau wohl nicht recht passen.

In Keyenberg zeigt sich auch am deutlichsten ein allgemeiner Bevölkerungsschwund, der mit einer solchen Umsiedlung einher geht. 214 frühere Bewohner (=25 %) haben dem Ort ganz den Rücken gekehrt. Das hat verschiedene Ursachen: wer zur Miete wohnte, bekam nur wenig Entschädigung und musste sich bei der Suche nach einer neuen Bleibe auch breiter umschauen. Wer auf dem Absprung aus dem Elternhaus war, nahm diese Gelegenheit dafür wahr. Manchen aber erscheint der Umzug in eine vom Reißbrett entstandene, zunächst steril wirkende Neubausiedlung nicht attraktiv.

Die Entwicklung der Einwohnerzahlen in den betroffenen Dörfern von 2016 (vor der Umsiedlung) bis heute:

                                                          2016                      2022 (alt)                            2022 (neu)

Keyenberg                                         840                        180                                         446

Kuckum                                             460                       185 (2023: 310*)              253

Ober-und Unterwestrich              149                        32                                           78

Berverath                                           117                        57 (2023: 75*)                   49

*mit Einquartierung ukrainischer Flüchtlinge

Quelle: Stadtverwaltung Erkelenz, Frau Schürger

Sieht man sich die dicht beieinander liegenden Flächen für die neuen Dörfer an, erscheint fraglich, ob hier noch ein eigenständiges Dorfleben unter den alten Ortsnamen entstehen wird – oder das ganze zu einem neuen Gebilde, sozusagen Keyenrich-Kuckrath, zusammenwachsen wird. Dass es statt drei Kirchen in Keyenberg, Kuckum und Berverath nur noch eine für alle gibt, mag mit dem derzeitigen Mitgliederschwund noch in Einklang stehen.

Aber auch die Sportstätten für Kuckum und Keyenberg wurden jetzt nebeneinander zu einem gemeinsamen Sportpark am südöstlichen Ortsrand von Neu-Kuckum angelegt. Die Keyenberger müssen zu diesem Sportplatz nun durch Westrich und Kuckum hindurch. Immerhin: statt der alten Asche gibt es dort einen Kunstrasenplatz, der die Strapazierung von vier Sportvereinen besser aushalten soll.