Demo in Paris (20. Arrondissement)
„Und wie gehts in Berlin den Leutenants
Der Garde? Haben sie noch ihre Arroganz
Und ihre enggeschnürte Taille?
Schwadronieren sie noch von Kanaille?
Ich rate euch, nehmt euch in acht,
Es bricht noch nicht, jedoch es kracht“
Heinrich Heine, 1855, Die Menge tut es.
Paris. Montag, 3. April 2023.
Auf der Suche nach Spuren des Protestes gegen Macrons Rentenreform zwischen zwei großen Streiktagen. Die „AG interpro 20ème“ ist eine Stadtviertel-Initiative. Menschen aus dem 20 Arrondissement von Paris haben sich im Jahr 2019 gegen die damalige Rentenreform von Premierminister Édouard Philippe zusammen gefunden. Sie treffen sich jede Woche, um Proteste zu planen. Heute steht eine Demo im Viertel an.
18 Uhr. Eigentlich sollte es los gehen. Ein Dutzend Menschen steht vor der der Kirche Saint-Jean-Baptiste de Belleville. Ein bisschen desolat, denke ich, enttäuscht. Wartend lese ich touristische Schilder. Belleville ist ein gewachsenes Arbeiter- und Einwanderviertel. Als Georges-Eugène Haussmann in den 1850er Jahre das größte Gentrifizierungsprogramm der Geschichte Paris nach Kriterien der Maximierung von Immobilienspekulation und Aufstandsbekämpfung umsetzte, flüchteten viele vertriebene ArbeiterInnen nach Belleville. Während der Pariser Commune sollen die Barrikaden in Belleville die letzten sein, die fielen.
Ein Mann spricht mich an – ob ich auch zur Demo wolle? Wir kommen ins Gespräch. Er ist Professor für Philosophie an einer Universität. Erzählt fiebrig, dass das, was sich in den letzten zwei Wochen in Paris abspielte, den Charakter einer „Insurrection“ hatte – eines Aufstandes. Niemand hätte ein solches Erdbeben erwartet. Er stellt mir eine Aktivistin und Gewerkschafterin der CGT aus dem Viertel vor. Ich frage sie nach der Perspektive der Proteste. Sie schaut mich perplex an. Die Rücknahme der Rentenreform natürlich, was sonst? Und die massive Politisierung, die zur Zeit stattfinden würde. Der Versuch, die Rentenreform mit aggressiver Polizeigewalt und mithilfe von Verfassungsartikel 49.3 am Parlament vorbei durchzusetzen hat mittlerweile die Jugend auf den Plan gerufen.
Und tatsächlich hat sich in der Zwischenzeit der Platz gefüllt. Gut 400 Menschen ziehen los. Die Aktivisten wollen die entlang der Demoroute lebenden und arbeitenden Menschen für die nächste große Demo am 6. April gewinnen.
„Lasst uns mit Macron und seine Welt abrechnen!“ heißt es auf dem Flugblatt, das dafür am Rande verteilt wird. Mit der Rentenreform ginge es vor allem darum, die Idee der Solidarität und einer besseren Verteilung des Wohlstands zu zerschlagen.
Solidarität beginnt mit gesellschaftlicher Opposition. Nach langen Jahren der Resignation und Hoffnungslosigkeit unter dem Banker-Despoten Macron keimt Lebensfreude und Hoffnung wieder auf. Bei Jung und alt. Alle haben etwas zu gewinnen.
Text und Fotos: Senta Pineau